Die soziale Frage und erste Lösungsansätze der Arbeiterschaft
Die soziale Frage entstand im 19. Jahrhundert als Folge tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Bevölkerungswachstum, Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit führten zum Phänomen des Pauperismus, einer weit verbreiteten Massenarmut. Mit dem Aufstieg der Industrie entstanden zwar neue Arbeitsplätze, doch viele Menschen mussten ihren Lebensunterhalt als Industriearbeiter oder Lohnarbeiter in der Landwirtschaft verdienen. Diese Gruppe bildete das sogenannte Proletariat.
Die Arbeiterschaft sah sich mit schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. Aufgrund des fehlenden politischen Einflusses, bedingt durch das Drei-Klassen-Wahlrecht, hatten die Arbeiter kaum Möglichkeiten, ihre Lage zu verbessern. Der Staat übernahm keine Verantwortung für die soziale Versorgung, sodass die Arbeiter selbst für Verbesserungen sorgen mussten.
Highlight: Die Arbeiterschaft entwickelte eigenständige Lösungsansätze, um ihre Situation zu verbessern, da der Staat keine Unterstützung bot.
Als erster organisatorischer Ansatz entstanden Arbeiterbildungsvereine. Diese zielten darauf ab, die oft ungebildeten Arbeiter besser zu schulen, um langfristig ihre Lage zu verbessern.
Drei erfolgreiche Lösungsansätze durch den Zusammenschluss der Arbeiter waren:
- Genossenschaften: Die ersten Genossenschaften für Arbeiter, Handwerker und Bauern dienten als Hilfe zur Selbsthilfe. Vorschuss- und Kreditvereine boten ihren Mitgliedern die Möglichkeit, eigene Investitionen zu tätigen, um mit der fortschreitenden Industrialisierung Schritt zu halten.
Example: Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründeten Genossenschaften, die als Vorläufer der heutigen Volksbanken gelten.
- Arbeiterparteien: 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) als erste sozialistische Arbeiterpartei gegründet. Er setzte sich für das allgemeine Wahlrecht und Reformen der Sozialpolitik ein. 1869 folgte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), die sich am Marxismus orientierte und eine sozialistische Revolution anstrebte. 1875 schlossen sich beide zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) zusammen.
Vocabulary: Marxismus - Eine von Karl Marx begründete Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die auf der Kritik am Kapitalismus basiert und eine klassenlose Gesellschaft anstrebt.
- Gewerkschaften: Diese entstanden als Interessenvertretungen der Arbeiter und kämpften für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.
Der zunehmende politische Druck der Arbeiterparteien führte zu Ängsten vor einer sozialistischen Revolution. Als Reaktion darauf verabschiedete Otto von Bismarck 1878 das "Sozialistengesetz", das bis 1890 in Kraft blieb. Obwohl die SADP nicht verboten wurde, löste man ihre Parteiorganisation und die Gewerkschaften auf.
Definition: Sozialistengesetz - Ein Gesetz im Deutschen Kaiserreich, das von 1878 bis 1890 galt und sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen unterdrückte.
Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes reorganisierte sich die SADP zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Sie wurde zur stärksten Fraktion im Reichstag, hatte aber im Kaiserreich keinen direkten politischen Einfluss.