Urs Bitterlis Theorie der Kulturbegegnung
Urs Bitterli, geboren 1935, entwickelte eine Theorie zur Kulturbegegnung, die sich besonders auf die europäische Expansion ab dem 15. Jahrhundert bezieht. Seine Grundgedanken lassen sich jedoch auch auf andere historische Prozesse und Epochen übertragen. Bitterli unterscheidet fünf Hauptformen der Kulturbegegnung, die jeweils unterschiedliche Aspekte und Intensitäten der Interaktion zwischen Kulturen beschreiben.
Die erste Form ist die Kulturberührung. Sie beschreibt ein friedliches Zusammentreffen von Europäern und überseeischer Kultur. Diese Begegnungen sind in der Regel von kurzer Dauer und oft erstmalig, was zu großen Umbrüchen führen kann. Für beide beteiligten Kulturen birgt diese Form der Begegnung sowohl den Reiz als auch die Bedrohlichkeit des Neuen.
Definition: Kulturberührung bezeichnet die erste, meist friedliche Begegnung zwischen zwei Kulturen, die oft von Neugierde und Vorsicht geprägt ist.
Die zweite Form ist der Kulturkontakt. Hierbei handelt es sich um ein dauerhaftes Verhältnis wechselseitiger Beziehungen. Eine wichtige Voraussetzung für den Kulturkontakt ist ein machtpolitisches Gleichgewicht, bei dem keine Partei darauf aus ist, die volle Macht zu übernehmen. In der Regel stehen bei dieser Form Aspekte des Handels oder der Mission im Vordergrund, basierend auf Angebot und Nachfrage.
Highlight: Der Kulturkontakt zeichnet sich durch ein Gleichgewicht der Macht und oft durch Handelsbeziehungen aus.
Die dritte Form, die Akkulturation, beschreibt einen kulturellen Anpassungsprozess mit wechselseitiger Übertragung von Kulturelementen. Voraussetzung hierfür ist ein dauerhaftes Zusammenleben und Zusammenwirken verschiedener Bevölkerungsgruppen im selben geografischen Raum.
Vocabulary: Akkulturation ist ein Prozess der gegenseitigen kulturellen Anpassung und des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen.
Der Kulturzusammenstoß stellt die vierte Form dar. Er ist durch einen aggressiven Charakter und rücksichtsloses Verhalten gekennzeichnet. Hierbei wird die kulturelle Existenz der militärisch oder machtpolitisch schwächeren Partei bedroht. Typische Merkmale sind Besitzaneignung, Unterdrückung, Gewalt und in extremen Fällen sogar Ausrottung.
Example: Ein Beispiel für einen Kulturzusammenstoß wäre die gewaltsame Kolonisierung indigener Völker durch europäische Mächte.
Die letzte Form ist die Kulturverflechtung. Sie beschreibt eine permanente gegenseitige Beziehung, die durch Ansiedlung und Fortpflanzung entsteht. Diese Form zeichnet sich durch eine intensive gesellschaftliche Durchdringung aus und führt zu einem Bewusstsein der verpflichtenden Aufeinanderangewiesenheit. Es entsteht eine zwingende Notwendigkeit zur existenzsichernden Zusammenarbeit.
Highlight: Die Kulturverflechtung stellt die tiefste Form der Kulturbegegnung dar, bei der Kulturen untrennbar miteinander verwoben werden.
Bitterlis Theorie bietet einen wertvollen Rahmen, um die komplexen Prozesse der Kulturverflechtung und ihre Auswirkungen auf die beteiligten Gesellschaften zu verstehen. Sie ermöglicht es, die verschiedenen Stadien der europäischen Expansion und des Kolonialismus differenziert zu betrachten und zu analysieren.