Tugend und Ehrbarkeit in der Familie Galotti
In Lessings "Emilia Galotti" spielt die Frage nach Tugend und Ehrbarkeit eine zentrale Rolle, insbesondere im Kontext der Familie Galotti. Die Vorstellungen von Keuschheit und Ehrbarkeit, wie sie von Basedow formuliert wurden, finden sich in verschiedener Weise im Verhalten und den Konflikten der Charaktere wieder.
Emilia Galotti selbst gerät in einen Konflikt mit den strengen Moralvorstellungen ihrer Zeit. Entgegen Basedows Rat, sich vom anderen Geschlecht fernzuhalten, lässt sie die Nähe des Prinzen zu. Dies geschieht ausgerechnet in der Kirche am Tag ihrer Hochzeit, was nach den Maßstäben der Zeit als höchst unehrenhaft gilt.
Example: Emilias Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche widerspricht direkt Basedows Mahnung: "Sei nicht einsam mit einer Person des anderen Geschlechts an solchen Orten, zu einer solchen Zeit und in solchen Umständen, dass es, wenn man es wüsste, für unehrbar gehalten würde."
Claudia Galotti, Emilias Mutter, zeigt ebenfalls ein ambivalentes Verhältnis zu den strengen Tugendvorstellungen. Einerseits freut sie sich über die Aufmerksamkeit, die der Prinz ihrer Tochter schenkt, andererseits ist sie von der "rauhen Tugend" ihres Mannes Odoardo genervt. Sie rät Emilia sogar, ihrem Verlobten Appiani nichts von der Begegnung mit dem Prinzen zu erzählen, was nach Basedows Maßstäben als untugendhaft gelten würde.
Quote: Claudia über Odoardos Tugend: "Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar!" (S.29, Z. 27ff.)
Odoardo Galotti verkörpert am ehesten die strengen Tugendvorstellungen der Aufklärung. Er ist für seine unbeugsame Moral bekannt und steht der "Stadterziehung" seiner Tochter kritisch gegenüber, da er die Stadt als Ort der Untugend betrachtet.
Die Familie Galotti zeigt somit ein komplexes Bild im Hinblick auf die Frage "Ist Emilia Galotti aufgeklärt?". Während einige Familienmitglieder, insbesondere Odoardo, stark von aufklärerischen Tugendidealen geprägt sind, zeigen andere, wie Emilia und Claudia, die Spannungen und Konflikte, die diese strengen Moralvorstellungen in der Realität hervorrufen können.
Highlight: Lessing nutzt die Familie Galotti, um die Komplexität und teilweise Widersprüchlichkeit aufklärerischer Tugendvorstellungen zu illustrieren.
Diese Darstellung der Familie Galotti verdeutlicht, was Lessing mit Emilia Galotti aussagen will: Er hinterfragt kritisch die rigiden Moralvorstellungen der Aufklärung und zeigt, wie diese in Konflikt mit menschlichen Emotionen und gesellschaftlichen Realitäten geraten können.