Detaillierte Analyse des Gedichts "Abend" von Andreas Gryphius
Formale Aspekte und Struktur
Das Gedicht "Abend" von Andreas Gryphius ist ein Sonett, eine in der Barockzeit beliebte lyrische Form. Es besteht aus 14 Versen, die in zwei Quartette und zwei Terzette gegliedert sind. Das Reimschema des Gedichts "Abend" von Andreas Gryphius folgt dem Muster abba abba ccd eed, wobei die Quartette einen umarmenden Reim und die Terzette einen Schweifreim aufweisen.
Highlight: Die strenge Form des Sonetts steht im Kontrast zur thematisierten Vergänglichkeit und Unsicherheit des Lebens.
Das Metrum des Gedichts "Abend" von Andreas Gryphius ist überwiegend ein Alexandriner, ein sechshebiger Jambus mit einer Zäsur in der Mitte. Dieses Versmaß verleiht dem Gedicht einen getragenen, feierlichen Rhythmus, der die ernste Thematik unterstreicht.
Example: "Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn" (Vers 1) - hier ist die Zäsur nach "hin" deutlich zu erkennen.
Inhaltliche Analyse und Interpretation
Erste Strophe: Der Übergang vom Tag zur Nacht
Die erste Strophe beschreibt den Übergang vom Tag zur Nacht als Metapher für den Lebensabend.
Quote: "Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn / Und führt die Sternen auf." (Verse 1-2)
Diese Personifikation der Nacht als aktive Kraft verstärkt den Eindruck des unaufhaltsamen Zeitablaufs. Die Menschen beenden ihre Arbeit, und es bleibt nur Einsamkeit zurück. Der Ausruf "Wie ist die Zeit vertan!" am Ende der Strophe drückt das Gefühl der Vergänglichkeit und möglicherweise auch der Reue über nicht genutzte Lebenszeit aus.
Zweite Strophe: Die Nähe des Todes
In der zweiten Strophe wird die Vergänglichkeit des Lebens noch deutlicher thematisiert.
Quote: "Der Port naht mehr und mehr sich / zu der Glieder Kahn." (Vers 5)
Diese Schiffsmetapher verdeutlicht, dass das Ende des Lebens - der "Port" - immer näher rückt. Die Verse "Gleich wie dies Licht verfiel / so wird in wenig Jahren / Ich / du / und was man hat / und was man sieht / hinfahren" (Verse 6-7) sind ein klassisches Beispiel für die Vanitas-Thematik in Andreas Gryphius' Gedicht "Abend".
Vocabulary: "Vanitas" (lat. "Eitelkeit", "Nichtigkeit") ist ein zentrales Motiv der Barockdichtung, das die Vergänglichkeit alles Irdischen betont.
Dritte und vierte Strophe: Hinwendung zu Gott
In den beiden Terzetten wendet sich das lyrische Ich an Gott. Es bittet um Beistand und Erlösung von den irdischen Qualen.
Quote: "Lass / höchster Gott / mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten" (Vers 9)
Diese Bitte um göttliche Führung zeigt die tiefe Religiosität, die für die Barockzeit charakteristisch ist. Die dreimalige Anrufung Gottes in den letzten beiden Strophen kann als Anspielung auf die christliche Dreifaltigkeit interpretiert werden.
Sprachliche Mittel und ihre Wirkung
Das Gedicht ist reich an rhetorischen Figuren, die typisch für die Barocklyrik sind:
- Antithesen: Tag - Nacht, Diesseits - Jenseits
- Personifikationen: "die Nacht schwingt ihre Fahn" (Vers 1)
- Metaphern: "der Glieder Kahn" für den Körper (Vers 5)
- Lichtmetaphorik: "Dein ewig heller Glanz" (Vers 14)
- Imperative als Ausdruck des Gebets: "Lass", "reiß mich aus" (Verse 9, 14)
Highlight: Die gehäuften Enjambements (z.B. Verse 2-3, 6-7, 12-13) verstärken den Eindruck des schnell dahinfließenden Lebens.
Einordnung in den literaturgeschichtlichen Kontext
Das Gedicht "Abend" von Andreas Gryphius ist ein typisches Beispiel für die Lyrik des Barock. Es greift zentrale Themen dieser Epoche auf:
- Vergänglichkeit des Lebens (Vanitas)
- Mahnung an die Sterblichkeit (Memento mori)
- Spannung zwischen irdischem Leben und jenseitiger Erlösung
- Gottesfurcht und Heilsgewissheit
Die Zusammenfassung des Gedichts "Abend" von Andreas Gryphius zeigt, wie der Dichter persönliche Erfahrungen mit allgemeingültigen Aussagen über die menschliche Existenz verbindet. Der historische Kontext - geprägt von Kriegserfahrungen und religiösen Konflikten - spiegelt sich in der zerrissenen Weltsicht wider, die das Gedicht vermittelt.
Definition: Das "Memento mori" (lat. "Gedenke des Todes") ist ein wichtiges Motiv der Barockdichtung, das an die Sterblichkeit des Menschen erinnert und zur Besinnung auf das Wesentliche aufruft.
Die formale Strenge des Sonetts steht dabei im Kontrast zur inhaltlichen Unsicherheit und Vergänglichkeit, die das Gedicht thematisiert. Diese Spannung zwischen Form und Inhalt ist charakteristisch für die Barocklyrik und macht das Gedicht zu einem eindrucksvollen Beispiel dieser literarischen Epoche.