Realismus und Entwicklung des modernen Erzählens
Der Realismus als literarische Epoche von 1850-1890 zeichnete sich durch ein traditionelles Erzählen aus, das sich deutlich vom späteren modernen Erzählen unterscheidet. Diese Seite gibt einen Überblick über die zentralen Merkmale beider Erzählweisen und vergleicht sie anhand konkreter Beispiele.
Merkmale des traditionellen Erzählens
Das traditionelle Erzählen im Realismus war geprägt von:
- Festen Erzählpositionen, meist auktorial oder personal
- Chronologischer Erzählweise
- Geschlossener Form mit klarem Anfang und Ende
- Konventionellem Erzähleingang
- Detaillierter Personen- und Milieuschilderung
- Entwicklung der Figuren und Überwindung von Konflikten
Highlight: Die geschlossene Form und chronologische Struktur vermittelten den Eindruck einer überschaubaren und zugänglichen Welt.
Charakteristika des modernen Erzählens
Im Gegensatz dazu zeichnet sich das moderne Erzählen aus durch:
- Wechselnde Erzählperspektiven
- Diskontinuierliche, nicht-chronologische Erzählweise
- Offene Form ohne klaren Abschluss
- Abkehr von konventionellen Erzähleingängen
- Fokus auf das Innenleben der Figuren
- Keine eindeutige Überwindung von Konflikten
Highlight: Die offene Form und wechselnden Perspektiven spiegeln eine komplexere, schwerer fassbare Welt wider.
Vergleich anhand von Beispielwerken
Die Entwicklung vom traditionellen zum modernen Erzählen lässt sich gut an drei Werken nachvollziehen:
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"Cécile" von Theodor Fontane 1884/1886:
Traditioneller auktorialer Erzähler
Geschlossenes bürgerliches Weltbild
Frau als schwaches, schutzbedürftiges Wesen
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"Fräulein Else" von Arthur Schnitzler 1924:
Innerer Monolog mit personalem Ich-Erzähler
Radikale Innensicht für den Leser
Übergang zu selbstbewusster, moderner Frauenfigur
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"Gilgi - eine von uns" von Irmgard Keun 1931:
Mischung aus auktorialem, personalem Erzählen und innerem Monolog
Schwer überschaubare Welt durch Verschmelzung der Perspektiven
Emanzipierte, aber im kapitalistischen System gefangene Frauenfigur
Example: In "Fräulein Else" wird der innere Konflikt der Protagonistin durch den Einsatz des inneren Monologs unmittelbar erlebbar, während in "Cécile" der auktoriale Erzähler die Gefühlswelt der Figuren beschreibt.
Wandel der Frauenrollen und gesellschaftlichen Darstellung
Der Vergleich der Werke zeigt auch einen deutlichen Wandel in der Darstellung von Frauenrollen:
- Von der abhängigen, schutzbedürftigen Frau in "Cécile"
- Über die innerlich zerrissene, nach Freiheit strebende Else
- Bis zur selbstständigen, aber im System gefangenen Gilgi
Highlight: Die Entwicklung der Erzähltechniken geht einher mit einer zunehmend komplexeren Darstellung der gesellschaftlichen Realität und der Rolle der Frau.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Übergang vom traditionellen zum modernen Erzählen eine Abkehr von der Vorstellung einer überschaubaren, geordneten Welt hin zu einer komplexeren, vielschichtigeren Realität markiert. Dies spiegelt sich sowohl in den Erzähltechniken als auch in der Darstellung der Charaktere und gesellschaftlichen Verhältnisse wider.