Das Nibelungenlied - Entstehung und Überlieferung

Das Nibelungenlied hat eine ziemlich komplizierte Geschichte hinter sich. Die ursprünglichen Geschichten stammen aus der Völkerwanderungszeit, wurden aber jahrhundertelang nur mündlich weitergegeben - wie bei einem riesigen Stille-Post-Spiel über Generationen hinweg.

Erst im 12. Jahrhundert, zur Zeit der höfisch-ritterlichen Kultur, wurden die ersten Handschriften niedergeschrieben. Deshalb findest du in dem Epos sowohl uralte germanisch-heidnische Motive (wie die Blutrache) als auch typisch mittelalterliche höfisch-christliche Elemente.

Das Werk war im Mittelalter ziemlich populär - allein aus dem 12. bis 14. Jahrhundert kennst du heute 24 verschiedene Handschriften. Jede weicht ein bisschen von der anderen ab, fast wie verschiedene Filmversionen derselben Geschichte. Die berühmte Einleitungsstrophe findest du beispielsweise nur in der Handschrift C aus dem 13. Jahrhundert.

Gut zu wissen: Welche Handschrift dem ursprünglichen Text am nächsten kommt, kann niemand mehr sagen - die modernen Versionen basieren hauptsächlich auf der Handschrift B.

Siegfrieds Werbung um Kriemhild

Die Geschichte beginnt in Worms am Rhein, am Hof der drei Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher. Deren Schwester Kriemhild hat einen prophetischen Traum: Sie zieht einen Falken auf, den zwei Adler zerreißen - eine düstere Vorahnung auf das, was kommen wird.

Obwohl Kriemhild ihre Mutter versichert, dass sie sich weder verlieben noch heiraten will, taucht schon bald der Königssohn Siegfried von Xanten auf und wirbt um sie. Seine Werbung beginnt ziemlich aggressiv - er fordert Gunther zum Kampf heraus!

Hagen von Tronje, Gunthers Gefolgsmann, klärt über Siegfrieds beeindruckende Vergangenheit auf: Mit seinem Schwert Balmung eroberte Siegfried den Hort der Nibelungen und entriss dem Zwerg Albarich die Tarnkappe. Nach dem Drachenkampf badete er in Drachenblut und wurde dadurch unverwundbar - bis auf eine kleine Stelle zwischen den Schulterblättern.

Die Burgunderkönige entscheiden klug: Lieber diesen Superhelden als Verbündeten haben! Siegfried unterstützt Gunther erfolgreich im Kampf gegen die Sachsen, und dann kommt es zur ersten romantischen Begegnung zwischen ihm und Kriemhild.

Merke dir: Siegfrieds Unverwundbarkeit wird später noch eine entscheidende Rolle spielen!

Die erste Begegnung und Brünhilds Eroberung

Die erste Begegnung zwischen Siegfried und Kriemhild ist wie aus einem romantischen Film: Sie errötet, heißt ihn willkommen, sie gehen Hand in Hand und schauen sich verliebt an. Endlich Liebe auf den ersten Blick!

Aber Gunther stellt eine Bedingung für die Hochzeit: Siegfried muss ihm bei der Werbung um Brünhild von Isenstein helfen. Diese Königin ist nicht nur schön, sondern auch ungewöhnlich stark und will nur den Mann heiraten, der sie im Dreikampf besiegt. Kein Problem für das Dream-Team!

Siegfried versteckt sich unter seiner Tarnkappe und hilft Gunther heimlich beim Kampf. Brünhild ahnt, dass hier etwas nicht stimmt, kann es aber nicht beweisen. In der Hochzeitsnacht rächt sie sich auf drastische Weise: Sie hängt Gunther an einen Nagel an die Wand!

Wieder muss Siegfried das Problem lösen. Getarnt besiegt er Brünhild erneut und entreißt ihr Ring und Gürtel - die Symbole ihrer weiblichen Macht. Erst dadurch wird sie zur "normalen" Ehefrau. Jetzt können endlich auch Siegfried und Kriemhild heiraten und ziehen glücklich nach Xanten.

Achtung: Brünhild erfährt vorerst nicht, wie sie wirklich besiegt wurde - das wird später noch für mächtigen Ärger sorgen!

Der Königinnenstreit und Siegfrieds Tod

Zehn Jahre später platzt die Bombe! Beim einem Ritterspiel geraten Brünhild und Kriemhild in einen heftigen Streit um ihre soziale Rangstellung. Brünhild meint immer noch, Siegfried sei nur Gunthers Vasall - also ein Untergebener.

Kriemhild ist empört und am Höhepunkt des Streits demütigt sie Brünhild öffentlich vor dem Wormser Münster. Sie konfrontiert sie mit der Wahrheit über ihre Entjungferung und beschimpft sie als "Kepse" (Hure). Autsch - das sitzt!

Brünhild ist zutiefst verletzt und empört. Hagen von Tronje wird zum Wortführer der Rache und plant im Einverständnis mit Gunther Siegfrieds Ermordung. Durch eine List erfährt er Siegfrieds einzige verwundbare Stelle zwischen den Schulterblättern.

Hagen tötet Siegfried hinterrücks und legt die Leiche vor Kriemhilds Kemenatentür. Deshalb wird Hagen oft als Bösewicht gesehen - aber das ist nur die halbe Wahrheit. Er handelt als absolut treuer Vasall seiner Herrscher, und nach den Wertvorstellungen dieser Zeit schreit eine solche Beleidigung nach blutiger Rache.

Wichtig: Hagen ist nicht nur Mörder, sondern auch treuer Gefolgsmann - im Mittelalter galten andere moralische Maßstäbe als heute!

Kriemhilds Rache und das Gemetzel

Ab jetzt kennt Kriemhild nur noch einen Gedanken: Rache an Hagen, Gunther und Brünhild! Das Problem: Als Witwe muss sie wieder bei ihrer verhassten Familie in Worms leben, und Hagen hat sich Siegfrieds Nibelungenhort unter den Nagel gerissen. Ohne Geld keine Macht!

Kriemhild fasst einen cleveren Plan: Sie heiratet den Hunnenkönig Etzel (Attila) - eine reine Zweckheirat für ihre Rachepläne. Dreizehn Jahre nach Siegfrieds Tod lädt das Ehepaar die Burgunder an den Hunnenhof nach Ungarn ein.

Schon während der Reise durch das Donautal gibt es mystische Zeichen für das bevorstehende Unheil. Beim Fest lässt Kriemhild dann alle burgundischen Ritter niedermetzeln - ein Blutbad ohne Gnade!

Am Ende stehen sich die Hauptkontrahenten gegenüber. Kriemhild fordert den gefangenen Hagen auf, das Versteck von Siegfrieds Nibelungenhort zu verraten. Hagen weigert sich, solange noch einer der Burgunderkönige lebt. Kriemhilds Reaktion ist brutal: Sie lässt ihren Bruder Gunther enthaupten und bringt Hagen den abgeschlagenen Kopf. Trotzdem verrät er das Versteck nicht - jetzt wisse nur noch Gott, wo der Schatz sei, und "dir, Teufelin, soll er für immer verborgen bleiben."

Krass: Kriemhild opfert sogar ihre eigenen Brüder für ihre Rache - Liebe macht wirklich blind!

Das blutige Ende

Kriemhild schlägt Hagen mit Siegfrieds Schwert Balmung das Haupt ab - die ultimative Rache ist vollbracht! Aber auch ihr Schicksal ist besiegelt: Hildebrand, der Waffenmeister des Dietrich von Bern, findet Kriemhilds Verhalten unerträglich.

Er greift sie mit dem Schwert an und tötet sie - "ze stücken was gehouwen do daz edele wip" (die edle Frau wurde in Stücke gehauen). Ein brutales Ende für eine brutale Geschichte!

König Etzel und Dietrich beklagen den Tod so vieler Menschen. Der Erzähler hat den Dingen wirklich die schlimmstmögliche Wendung gegeben, bevor er sich mit der berühmten Schlusszeile verabschiedet: "Hie hat daz mære ein ende: daz ist der Nibelunge not" (Hier findet die Geschichte ein Ende: Das ist der Nibelungen Not).

Das Wort "Not" bedeutet hier nicht nur Leid, sondern auch Untergang - sehr passend für dieses düstere Ende, bei dem praktisch alle Hauptfiguren sterben.

Fazit: Das Nibelungenlied zeigt eindrucksvoll, wie aus Liebe Hass wird und Rache nur zu noch mehr Gewalt führt!

Das Nibelungenlied als nationales Symbol

Das Nibelungenlied hatte eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte. Nach seiner Blütezeit im Mittelalter geriet es fast in Vergessenheit und wurde erst im 18. Jahrhundert wiederentdeckt. Die deutsche Romantik mit ihrer Mittelalter-Begeisterung sorgte für neue Popularität.

Im 19. Jahrhundert wurde das Werk vom Deutschnationalismus vereinnahmt. Man erklärte es zum großen germanischen Mythos, der gleichberechtigt neben die antiken Epen Homers treten könne. Diese nationalistische Interpretation sollte das deutsche Selbstbewusstsein stärken.

Die Nationalsozialisten setzten diese Rezeptionsweise fort und missbrauchten das Nibelungenlied für ihre Ideologie. Sie förderten dessen Behandlung im Deutschunterricht, ließen aber alle Textpassagen weg, die nicht in ihr Weltbild passten - ein klassischer Fall von Manipulation durch Weglassen.

Besonders pervers: Das Nibelungenlied wurde zitiert, wenn zu Kampf und Krieg aufgerufen wurde. Ein berüchtigtes Beispiel ist Hermann Görings Appell an die deutsche Wehrmacht nach der katastrophalen Niederlage bei Stalingrad im Winter 1942/43 - als wäre heldenhafter Untergang erstrebenswert.

Wichtig: Literatur kann missbraucht werden - deshalb ist es wichtig, kritisch zu hinterfragen, wer ein Werk wie und warum interpretiert!

Die wichtigsten Figuren - Teil 1

Die Burgunden sind im Epos die Bewohner um Worms, historisch ein ostgermanischer Volksstamm. Nach einer verheerenden Niederlage 436 gegen die von Hunnen unterstützten Römer (angeblich 20.000 Tote!) wurden sie umgesiedelt. Dieses Trauma spiegelt sich im Nibelungenlied wider.

Siegfried basiert vermutlich auf dem fränkischen König Sigibert (um 575), der eine dramatische Geschichte erlebte: Seine Schwägerin Fredegunde stiftete zu seinem Mord an, seine Witwe Brunichildis wurde später grausam getötet. Eine andere These sieht in Siegfried den Cheruskerfürsten Arminius.

Brünhild, die Königin von Island, verliert mit ihrer erzwungenen Entjungferung ihre übermenschlichen Kräfte. Ihr Name geht auf die historische Brunichildis zurück, auch wenn diese inhaltlich eher zu Kriemhild passen würde.

Kriemhild (in nordischen Sagen Gudrun) ist die eigentliche Hauptfigur, die beide Teile des Epos zusammenhält. Mit ihrem Heranwachsen beginnt das Lied, mit ihrem gewaltsamen Tod endet es - ein perfekter dramatischer Bogen.

Interessant: Viele Figuren haben reale historische Vorbilder, auch wenn die Geschichten stark verändert wurden!

Die wichtigsten Figuren - Teil 2

Dietrich von Bern lebt bei Etzel in der Verbannung, sein Wohnsitz ist Verona $= Bern$. Historisch verbirgt sich dahinter der Gotenkönig Theoderich der Große (454-526) - wobei er erst nach Attilas Tod geboren wurde, was zeigt, wie frei die Dichter mit der Geschichte umgingen.

Hagen von Tronje ist Siegfrieds Mörder und der eigentliche Gegenspieler Kriemhilds. Er handelt aus Verpflichtung gegenüber Brünhild und ist Gunthers Ratgeber und Verwandter. Ein historisches Vorbild für diese komplexe Figur ist nicht bekannt.

Etzel, der mächtige Hunnenfürst und Kriemhilds zweiter Gatte, basiert auf Hunnenkönig Attila (406-453). Dieser starb in der Hochzeitsnacht mit einer germanischen Frau an Blutsturz - später erzählte man, die Germanin habe ihn getötet.

Gunther, König der Burgunden, entspricht dem historischen König Gundahar, der zur Zeit der großen Niederlage um 436 die Burgunden beherrscht haben soll. Seine Brüder Gernot und Giselher haben ebenfalls historische Entsprechungen.

Rüdiger, der Markgraf von Bechelaren, gerät in ein tragisches Dilemma zwischen seinen Verpflichtungen gegenüber den Burgunden und seiner Lehenstreue zu Etzel und Kriemhild.

Spannend: Die Dichter haben reale Personen und Ereignisse zu einer fiktiven, aber psychologisch überzeugenden Geschichte verwoben!