Die dunklen Seiten und Beziehungsdynamik
Neben ihrer fürsorglichen Seite zeigt Hanna auch dunkle Charakterzüge. In schwierigen Situationen wird sie blass, zittert vor Wut und kann sogar Michael gegenüber gewalttätig werden. Ihr Gesicht verändert sich dann drastisch - "aufgerissene Augen, aufgerissener Mund, rote Flecken auf Wange und Hals". Diese Ausbrüche deuten auf ihre innere Zerrissenheit hin.
Die Beziehung zwischen Hanna und Michael ist von Ungleichheit geprägt. Trotz weniger Gemeinsamkeiten räumt Hanna Michael einen festen Platz in ihrem Leben ein. Sie hält jedoch emotionale Distanz und ihre wahren Gefühle bleiben im ersten Teil des Romans unklar. Am Ende des ersten Teils verlässt sie Michael ohne Erklärung oder Abschied - ein weiterer Hinweis auf ihre Unberechenbarkeit.
Hanna Schmitz lebt in ständiger Angst, dass ihr Analphabetismus entdeckt werden könnte. Diese Schwäche, die sie verzweifelt zu verbergen sucht, erklärt viele ihrer widersprüchlichen Verhaltensweisen. Sie schwankt zwischen Flucht und Anpassung, zwischen Ordnungsliebe und Rebellion gegen gesellschaftliche Normen.
Im Grunde ist Hanna eine Einzelgängerin, die Öffentlichkeit und gesellschaftliche Kommunikation meidet. Ihre Beziehung zu Michael stellt eine ungewöhnliche soziale Annäherung dar und zeigt eine Wandlung ihres sonst verschlossenen Charakters. Dass sie den jungen Michael in ihr Leben lässt, mit ihm badet und eine intime Beziehung eingeht, steht im Kontrast zu ihrer sonstigen Zurückhaltung.
Wichtig zu verstehen: Hannas Verhalten wird stark von ihrem geheimen Analphabetismus beeinflusst - er ist der Schlüssel zu vielen ihrer scheinbar unerklärlichen Handlungen in "Der Vorleser".