Theorien des Wertewandels
Dieser Abschnitt befasst sich mit den unterschiedlichen Perspektiven zum Wertewandel in westlichen Industriegesellschaften, vorgestellt von drei bedeutenden Theoretikern: Ronald Inglehart, Helmut Klages und Elisabeth Noelle-Neumann.
Ronald Inglehart, ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler, entwickelte die Theorie des Postmaterialismus. Diese Theorie geht von einem tiefgreifenden Wertewandel in westlichen Industriestaaten aus.
Definition: Postmaterialismus bezeichnet eine Wertorientierung, die sich von materiellen Gütern abwendet und stattdessen immaterielle Werte in den Vordergrund stellt.
Inglehart argumentiert, dass sich dieser Wandel durch eine Abkehr von materiellen Gütern und eine verstärkte Hinwendung zu postmateriellen Werten auszeichnet.
Beispiel: Statt nach Wohlstand und materiellen Gütern zu streben, legen Menschen mehr Wert auf Selbstverwirklichung, individuelle Freiheitsrechte, politische Beteiligung und Umweltschutz.
Dieser Prozess vollzog sich laut Inglehart langsam, wie eine "stille Revolution". Als Ursache für diesen Wandel sieht er die zunehmende materielle Sicherheit der Menschen, bedingt durch Faktoren wie die Abwesenheit von Krieg, bessere Bildung, wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Sicherheit.
Highlight: Inglehart betont, dass das Aufwachsen in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands zu einer postmaterialistischen Weltorientierung führt.
Parallel dazu beobachtet Inglehart eine zunehmende Politisierung der Gesellschaft, die er als evolutionäres Ergebnis der Entwicklung moderner Industriegesellschaften betrachtet. Für Inglehart stellt der Wertewandel einen gesellschaftlichen Fortschritt dar.
Helmut Klages, ein deutscher Verwaltungswissenschaftler, bietet eine andere Perspektive auf den Wertewandel in der Gesellschaft. Er beschreibt einen Bedeutungsverlust von "Akzeptanz- und Pflichtwerten" wie Anpassungsbereitschaft, Ordnungsliebe und Fleiß zugunsten von "Selbstentfaltungswerten" wie Selbstständigkeit, Individualität und Konsumorientierung.
Vocabulary: Selbstentfaltungswerte sind Werte, die die persönliche Entwicklung und Autonomie des Individuums betonen.
Klages unterscheidet fünf Wertetypen und sieht den Wertewandel als eine Synthese oder Kombination unterschiedlicher Weltorientierungen. Er erkennt einen Zusammenhang zwischen dem Wertewandel und der Verbesserung der materiellen Grundlagen der Gesellschaft.
Definition: Wertesynthese nach Klages bedeutet die Vereinigung verschiedener, teils gegensätzlicher Wertorientierungen in der Gesellschaft.
Elisabeth Noelle-Neumann, Professorin für Kommunikationswissenschaft, vertritt eine kritischere Sicht auf den Wertewandel. Sie spricht von einem Verfall der Werte, gekennzeichnet durch das Vordringen der Selbstentfaltungswerte auf Kosten der Bereitschaft zu Disziplin und Pflichterfüllung.
Highlight: Noelle-Neumann befürchtet eine Aushöhlung der Fundamente der Gesellschaft durch den Wertewandel.
Sie beobachtet eine Abnahme der Bindung der Menschen an Kirche und Religionen sowie ein Nachlassen bewährter Tugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit und gutes Benehmen. Zudem sieht sie ein abnehmendes Bewusstsein für politisches Engagement im Gemeinwesen.
Quote: "Bewährte Tugenden (Höflichkeit, Pünktlichkeit, gutes Benehmen,...) lassen nach."
Als Konsequenz fordert Noelle-Neumann eine Rückkehr zu alten Werten und eine Erziehung im Sinne dieser Werte.
Diese unterschiedlichen Theorien zum Wertewandel zeigen die Komplexität und Vielschichtigkeit des Phänomens und bieten verschiedene Interpretationen der gesellschaftlichen Veränderungen in westlichen Industriegesellschaften.