Die Novelle "Bahnwärter Thiel" von Gerhart Hauptmann ist ein bedeutendes Werk des deutschen Naturalismus.
Thiel, der Protagonist, arbeitet als Bahnwärter und lebt nach dem Tod seiner ersten Frau Minna mit seiner zweiten Frau Lene zusammen. Die Charakterisierung Thiels zeigt einen pflichtbewussten, aber innerlich zerrissenen Mann, der zwischen seiner Verantwortung für seinen Sohn Tobias aus erster Ehe und den Anforderungen seiner dominanten zweiten Frau Lene hin- und hergerissen ist. Die Figurenkonstellation ist geprägt von den komplexen Beziehungen zwischen Thiel, seinem Sohn Tobias, der verstorbenen Minna und der herrschsüchtigen Lene. Besonders die Charakterisierung Lenes offenbart ihre brutale und herrische Natur, die sich in der Misshandlung des kleinen Tobias manifestiert.
Die Erzählperspektive ist auktorial, wobei der Erzähler tiefe Einblicke in Thiels Psyche gewährt und seine zunehmende geistige Zerrüttung dokumentiert. Die wichtigen Textstellen konzentrieren sich auf Thiels Doppelleben zwischen Arbeit und Familie, seine quasi-religiöse Beziehung zu seiner verstorbenen ersten Frau und den tragischen Höhepunkt, als sein Sohn Tobias durch seine Unachtsamkeit zu Tode kommt. Die Naturalismus Merkmale zeigen sich in der detaillierten Beschreibung der sozialen Umstände, der Determinierung der Charaktere durch ihre Umwelt und der wissenschaftlich-präzisen Darstellung von Thiels psychischem Verfall. Die Epoche des Naturalismus spiegelt sich in der schonungslosen Darstellung der sozialen Realität und der psychologischen Tiefe der Charaktere wider.