Zu Beginn des dritten Auftritts im fünften Aufzug wirkt der Tempelherr, der für das Christentum steht, zögernd, was durch die Regieanweisung "auf und nieder geh[en]" hervorgerufen wird. Im weiteren Verlauf der Szene, die gänzlich aus einem Monolog des Tempelherrn besteht, wird klar, wie dieser zu Nathan, dessen angeblicher Vaterschaft und zu Recha als Frau steht.
Am Anfang erscheint er sehr ärgerlich, hinterfragt aber selbst den Grund für seinen Zorn mit den Worten "Was hat mich denn so [e]rbittert gegen Nathan" (V. 3233f), weshalb er den Eindruck erweckt, nicht ganz im Reinen mit sich selbst zu sein. Trotz seines Zorns und Ärgers fasst er aber auch klare Gedanken, wenn er z. B. erklärt, dass Nathan stets Rechas Vater bleibe, sei er es nun biologisch oder nicht (vgl. V. 3249ff). Dies zeigt, dass er soziale Beziehungen innerhalb der Familie über die eigentliche biologische Abstammung stellt, womit er eine äußerst tolerante Haltung vertritt.
Aspekte der Gefühlslage des Tempelherrn
Im Gegensatz dazu steht allerdings seine Gefühlslage gegenüber Recha als Frau, die aber auch auf Daja, Rechas Gesellschafterin, zutrifft und sich somit auf Frauen allgemein bezieht. In Vers 3271 wird eine überhebliche und herablassende Haltung des Tempelherrn deutlich, da er erklärt, dass all seine Bemühungen um "ein Mädchen", d. h. Recha, nur deshalb ausgeführt worden sind, weil dieses von Nathan erzogen worden ist. Ihm wird dabei sehr wohl bewusst, dass seine Gefühle für Recha niemals aufgetreten wären, hätte nicht Nathan Recha erzogen, sondern irgendein anderer Mann. Dies erweckt folglich den Anschein, als würde er Recha nicht aufgrund ihrer Person selbst, sondern nur aufgrund ihres Vaters lieben.
Reflexion und Selbstreflexion
Am Ende des Auftritts erscheint er jedoch als ein reflektierender Mann, da er sich selbst eingesteht, dass er dem Patriarchen einen Grund für ein Treffen des Klosterbruders mit Nathan gegeben hat, das dem weisen Juden zum Verhängnis, wenn nicht sogar zum Todesurteil werden kann. Mit der Aussage, "dass ein einziger Funken dieser doch unsers Hirn so viel verbrennen kann" (V.3281 ff), wird dieses Zugeständnis noch einmal verstärkt, indem er nun erkennt, dass jeder nicht zu Ende gedachte Geistesblitz eine Reihe von bitteren Geschehnissen auslösen kann.
Fazit
Insgesamt lässt sich aussagen, dass der Tempelherr in diesem Auftritt so dargestellt wird wie in dem gesamten dramatischen Gedicht: Einerseits erscheint er als tolerante, belehrbare Person, die kritisch Sachverhalte hinterfragt und selbstreflektiert handelt, andererseits fällt er immer wieder in intolerante, überhebliche Verhaltensmuster zurück, die ihn in verhängnisvolle Situationen bringen, in denen er sich von seinen Gefühlen oder vorgefertigten Meinungen, hier zum Beispiel von seinem Frauenbild, lenken lässt, ohne darüber wirklich ernsthaft nachzudenken.