Analyse des Gedichts "Reisen" von Gottfried Benn
Das Gedicht "Reisen" von Gottfried Benn, das 1950 veröffentlicht wurde, befasst sich mit der Suche nach dem eigenen Ich. In einem dialogartigen Aufbau hinterfragt das lyrische Ich, ob Reisen in fremde Großstädte und Kulturen zur Selbstfindung beitragen können. Diese Frage wird im Verlauf des Gedichts verneint.
Das Reisemotiv wird in vier Strophen mit jeweils vier Versen entfaltet. Die formale Struktur des Gedichts unterstützt dabei die thematische Ausrichtung: Das daktylische Versmaß und der überwiegend verwendete Kreuzreim vermitteln den Eindruck einer kontinuierlichen Vorwärtsbewegung, die mit dem Reisemotiv assoziiert wird.
Highlight: Die formale Gestaltung des Gedichts spiegelt das Thema des Reisens wider, indem es durch Rhythmus und Reim eine Vorwärtsbewegung suggeriert.
In der ersten Strophe wendet sich das lyrische Ich direkt an den Leser, allerdings in der distanzierten Form des "Sie". Die rhetorische Frage "Meinen Sie Zürich [...] / sei eine tiefere Stadt?" wird durch die Verwendung von Alliterationen in ihrer ironischen Wirkung verstärkt.
Example: "wo man Wunder und Weihen / immer als Inhalt hat" zeigt die ironische Haltung gegenüber der Erwartung, in Zürich tiefere Erfahrungen zu machen.
Die zweite Strophe intensiviert die rhetorische Fragestellung durch einen Parallellismus. Benn verwendet hier religiöses Vokabular aus der jüdisch-christlichen Tradition und stellt es der oberflächlichen Attraktivität einer Karibikmetropole gegenüber. Der Konjunktiv "bräche" unterstreicht die Vergeblichkeit der Suche nach dem Ich in der Ferne.
Vocabulary: "Marina" und "Wüstenrot" sind Beispiele für das religiöse Vokabular, das Benn verwendet, um die Suche nach Tiefe zu ironisieren.
In der dritten Strophe gibt das lyrische Ich eine klare Antwort auf die Sinnsuche in fernen Ländern: "fällt sie die Leere an". Diese Verbalmetapher betont das Schockierende und Ernüchternde dieser Erkenntnis.
Definition: Die "Leere" symbolisiert hier die Erkenntnis, dass die Suche nach dem Selbst in der Ferne vergeblich ist.
Die vierte und letzte Strophe ändert den Ton des Gedichts. Mit der Interjektion "ach" beginnt eine ruhigere, fast resignative Stimmung. Das lyrische Ich kommt zu dem Schluss, dass nur in der Stille und in der Besinnung auf sich selbst der Mensch sein wahres Wesen erfahren kann.
Quote: "Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich:" Diese Zeilen fassen die Kernaussage des Gedichts zusammen.
Das Gedicht "Reisen" von Gottfried Benn richtet sich an alle Menschen, die überall nach sich selbst suchen, nur nicht in sich selbst. Es ist ein Plädoyer für die innere Einkehr als Weg zur Selbsterkenntnis. Gleichzeitig spiegelt es die apolitische Haltung der Adenauer-Ära wider, was angesichts Benns Verstrickung in den Nationalsozialismus kritisch betrachtet werden kann.
Highlight: Benns Gedicht ist ein Beispiel für die Nachkriegsliteratur, die oft eine Rückbesinnung auf das Individuum und eine Abkehr von politischen Themen zeigt.