Psychologische und parapsychologische Deutungen der Figur Nathanael
Der literaturwissenschaftliche Text von Marion Bönnighausen stellt zwei mögliche Deutungen von Nathanaels Charakter vor. Der Sandmann bleibt darin eine ambivalente Figur, deren tatsächliche Existenz ungeklärt bleibt.
Die erste Deutungsmöglichkeit interpretiert Nathanael als psychisch Kranken, der an Verfolgungswahn leidet. Diese rationale Position vertritt in der Erzählung Nathanaels Verlobte Clara. Sie steht damit im Einklang mit dem zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs. Nach Freuds späterer psychoanalytischer Theorie reproduziere Nathanael seine traumatische Erstbegegnung mit dem Sandmann.
Die zweite Deutung sieht Nathanael als Künstler mit der besonderen Gabe, Verborgenes und Übernatürliches wahrzunehmen. Diese parapsychologische Deutung entspricht der romantischen Naturphilosophie, in der Grenzzustände wie Traum und Wahnsinn als Zugang zu tieferen Erkenntnissen verstanden werden.
Bönnighausen betont, dass die polyperspektivische Erzählweise beide Lesarten zulässt. Die Motivkomplexe des Auges und der Automate sind eng miteinander verwoben und verweisen auf die Doppeldeutigkeit der Wahrnehmung. Besonders deutlich wird dies in Nathanaels Beziehung zur Automate Olimpia, deren vermeintliche Lebendigkeit er selbst durch seine Wahrnehmung erschafft.
Merke: Die Erzählung bleibt bewusst ambivalent – sie kann sowohl als Darstellung einer psychischen Erkrankung als auch als Geschichte über das Einwirken übernatürlicher Kräfte gelesen werden.