Die Rasurszene - Macht und Moral
Die Rasurszene (Szene 5) zeigt das Machtgefälle zwischen Hauptmann und Woyzeck besonders deutlich. Am Anfang monologisiert der Hauptmann, während Woyzeck nur kurz antwortet. Der Wendepunkt kommt, als der Hauptmann Woyzecks Familie moralisch angreift und ihm vorwirft, ein uneheliches Kind zu haben.
Woyzeck verteidigt sich mit einem Bibelzitat und offenbart dabei seine Vaterliebe. Seine Rechtfertigung zeigt den Kern des Problems: "Wir arme Leut. ... Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in die Welt." Damit macht er deutlich, dass Moral von finanziellen Möglichkeiten abhängt.
Der Hauptmann spricht Woyzeck Tugend ab, definiert diese jedoch selbst nur tautologisch: "Moral, das ist, wenn man moralisch ist." Seine eigene Vorstellung von Liebe reduziert er auf sexuelle Begierde: "Wenn ich am Fenster lieg, wenn's geregnet hat und den weißen Strümpfen so nachsehe ..., da kommt mir die Liebe."
Woyzecks Antwort trifft den Nagel auf den Kopf: "Ja, Herr Hauptmann, die Tugend! ... Wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr ..., ich wollt schon tugendhaft sein." Deutlicher kann der Zusammenhang zwischen sozialer Stellung und moralischer Bewertung kaum dargestellt werden.
Wichtig zu verstehen: In dieser Szene demaskiert Büchner bürgerliche Moralvorstellungen als Luxus der Privilegierten. Die "Tugend" ist nicht charakterlich, sondern sozial bedingt.